EuGH: Vertragsverletzungsverfahren kann von der Kommission auch dann eingeleitet werden, wenn die Fristen für nationale Rechtsbehelfe abgelaufen sind.

EuGH: Vertragsverletzungsverfahren kann von der Kommission auch dann eingeleitet werden, wenn die Fristen für nationale Rechtsbehelfe abgelaufen sind.

EuGH: Vertragsverletzungsverfahren kann von der Kommission auch dann eingeleitet werden, wenn die Fristen für nationale Rechtsbehelfe abgelaufen sind. 150 150 Dr. Andreas Bock (kbk Rechtsanwälte)

EuGH, Urteil v. 21.01.2010, Az. C-17/09

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

21. Januar 2010(*)

„Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Dienstleistungen der Entsorgung von Bio- und Grünabfall – Vergabe ohne offene Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge“

In der Rechtssache C-17/09

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 14. Januar 2009,

Europäische Kommission, vertreten durch B. Schima und C. Zadra als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch M. Lumma und B. Klein als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot (Berichterstatter) sowie der Richter C. W. A. Timmermans, K. Schiemann, P. Kuris und L. Bay Larsen,

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 8 in Verbindung mit den Abschnitten III bis VI der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. L 209, S. 1) verstoßen hat, dass die Stadt Bonn und die Müllverwertungsanlage Bonn GmbH (im Folgenden: MVA) einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag über die Entsorgung von Biomüll und Grünabfällen vergeben haben, ohne ein Vergabeverfahren mit europaweiter Ausschreibung durchzuführen.

Rechtlicher Rahmen

2 Nach Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/50

„gelten als ‚öffentliche Dienstleistungsaufträge‘ die zwischen einem Dienstleistungserbringer und einem öffentlichen Auftraggeber geschlossenen schriftlichen entgeltlichen Verträge …“.

3 Art. 8 dieser Richtlinie bestimmt:

„Aufträge, deren Gegenstand Dienstleistungen des Anhangs IA sind, werden nach den Vorschriften der Abschnitte III bis VI vergeben.“

4 Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie sieht vor:

„Die Auftraggeber, die einen Dienstleistungsauftrag im Wege eines offenen, eines nicht offenen oder – in den in Artikel 11 genannten Fällen – eines Verhandlungsverfahrens vergeben wollen, teilen ihre Absicht durch Bekanntmachung mit.“

5 Anhang IA („Dienstleistungen im Sinne von Artikel 8“) der Richtlinie 92/50 enthält u. a. die Kategorie 16 („Abfall- und Abwasserbeseitigung, sanitäre und ähnliche Dienstleistungen“), der die CPC-Referenznummer 94 entspricht.

Sachverhalt und Vorverfahren

6 Am 26. März 1997 schlossen die Stadt Bonn und MVA, eine städtische Gesellschaft, deren Kapital von der Stadt Bonn gehalten wird, mit dem privaten Abfallentsorgungsunternehmen EVB Entsorgung und Verwertung Bonn GmbH & Co. KG (im Folgenden: EVB) einen Vertrag über Abfallentsorgungsleistungen. In diesem Vertrag verpflichtet sich EVB zum einen zur Beschaffung, Vorsortierung und Anlieferung von Hausmüll zur Entsorgung in der Anlage von MVA. EVB zahlt an MVA für die Entsorgung des von ihr angelieferten Hausmülls einen festen Preis. Zum anderen verpflichtet sich EVB, bis zu 15 000 Mg/Jahr Biomüll und bis zu 10 000 Mg/Jahr Grünabfälle aus dem Stadtgebiet Bonn in ihren Kompostierungsanlagen zu entsorgen. Für die Entsorgung von Biomüll und Grünabfällen zahlt die Stadt an die EVB einen Festpreis von 290 DM/Mg für Biomüll und 160 DM/Mg für Grünabfälle. Diese Preise unterliegen einer Anpassungsklausel.

7 Mit Aufforderungsschreiben vom 23. März 2007 im Verfahren nach Art. 226 EG machte die Kommission der Bundesrepublik Deutschland gegenüber geltend, dass der Abschluss des Vertrags vom 26. März 1997 ohne Durchführung eines Vergabeverfahrens mit europaweiter Ausschreibung gegen Art. 8 in Verbindung mit den Abschnitten III bis VI der Richtlinie 92/50 verstoßen haben könnte.

8 Die Bundesrepublik Deutschland beantwortete dieses Aufforderungsschreiben mit Schreiben vom 18. Juli 2007. Dieses Antwortschreiben veranlasste die Kommission, am 1. Februar 2008 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an diesen Mitgliedstaat zu richten, in der sie ihn aufforderte, den gerügten Verstoß zu beenden. Die Bundesrepublik Deutschland beantwortete diese mit Gründen versehene Stellungnahme mit Schreiben vom 1. April 2008, in dem sie auf Verhandlungen zwischen der Stadt Bonn und der neuen Eigentümerin von MVA hinwies, die zu einem Ergebnis führen könnten, auf dessen Grundlage das Vertragsverletzungsverfahren seine Erledigung finden könnte.

9 Da die Kommission diese Antwort nicht für zufriedenstellend hielt, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

Zur Klage

Vorbringen der Parteien

10 Die Kommission trägt vor, der zwischen der Stadt Bonn und MVA als öffentliche Auftraggeber und dem Privatunternehmen EVB schriftlich geschlossene entgeltliche Vertrag über die Entsorgung von Biomüll und Grünabfällen sei ein öffentlicher Dienstleistungsauftrag, der nicht ohne Durchführung eines Vergabeverfahrens mit europaweiter Ausschreibung habe vergeben werden dürfen.

11 Die Bundesrepublik Deutschland sagt zu, dass sie sich bemühen werde, mit allen am streitigen Vertrag Beteiligten eine Lösung zu finden, um den Vertrag aufzuheben.

12 Sie trägt weiter vor, dass zwischen Vergaberecht und Abfallrecht ein Spannungsverhältnis bestehe und dass die Anwendung des Vergaberechts nicht zu ineffizienter und ökologisch nachteiliger Nutzung von Entsorgungskapazitäten führen dürfe. Insbesondere stehe das Vergaberecht der Behandlung und Beseitigung von Abfällen möglichst nah am Ort ihrer Erzeugung entgegen.

13 Die Bundesrepublik Deutschland macht außerdem geltend, dass die Beschwerde, aufgrund deren die Kommission eingeschritten sei, erst nach zehn Jahren Laufzeit des streitigen Vertrags eingereicht worden sei, obwohl der Beschwerdeführer bereits seit Langem von diesem Vertrag und den Mängeln bei seinem Abschluss gewusst und den Weg über ein nationales Nachprüfungsverfahren willentlich unterlassen habe. Würde nach so langer Zeit eine Vertragsverletzung der Bundesrepublik Deutschland festgestellt, hätte es ein Wettbewerber in der Hand, die insbesondere nach der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) zulässigen Fristen im nationalen Nachprüfungsverfahren, die für Rechtssicherheit sorgen sollten, zu umgehen und damit ein legitimes Bedürfnis der Beteiligten zu konterkarieren.

Würdigung durch den Gerichtshof

14 Vorab ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland zugesagt hat, sich zu bemühen, mit allen am streitigen Vertrag Beteiligten eine Lösung zu finden, um den Vertrag aufzuheben, und dass sie die Vertragsverletzung dem Grund nach nicht bestreitet.

15 Der Einwand, das Vergaberecht laufe bestimmten Grundsätzen des Abfallrechts zuwider, kann nicht durchgreifen.

16 Zwar bedeuten, wie der Gerichtshof im Urteil vom 9. Juli 1992, Kommission/Belgien (C-2/90, Slg. 1992, I-4431, Randnr. 34), ausgeführt hat, die Besonderheit der Abfälle und der Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen nach Möglichkeit an ihrem Ursprung zu bekämpfen, dass es Sache jeder Region, Gemeinde oder anderen Gebietskörperschaft ist, die geeigneten Maßnahmen zu treffen, um Aufnahme, Behandlung und Beseitigung ihrer eigenen Abfälle sicherzustellen, und dass diese daher möglichst nah am Ort ihrer Erzeugung zu beseitigen sind, um ihre Verbringung so weit wie möglich einzuschränken.

17 Jedoch können solche Erwägungen die Bundesrepublik Deutschland nicht von den Verpflichtungen entbinden, die sich für sie aus der Richtlinie 92/50 ergeben. Die Richtlinie als solche hindert den öffentlichen Auftraggeber nämlich nicht daran, einen Vertrag mit Bietern zu schließen, die in der Lage sind, die Abfälle möglichst nah am Ort ihrer Erzeugung zu beseitigen.

18 Die Frage des Verhältnisses zwischen Vergaberecht und Abfallrecht kann folglich nicht rechtfertigen, dass die Stadt Bonn und MVA einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag über die Entsorgung von Bio- und Grünabfall vergeben haben, ohne ein Vergabeverfahren mit europaweiter Ausschreibung durchzuführen.

19 Zum zweiten Einwand der Bundesrepublik Deutschland ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung der Kommission bei der Wahrnehmung der ihr in Art. 226 EG eingeräumten Zuständigkeiten kraft ihres Amtes im allgemeinen Interesse der Gemeinschaft die Aufgabe zufällt, die Ausführung des EG-Vertrags und der auf seiner Grundlage von den Organen erlassenen Vorschriften durch die Mitgliedstaaten zu überwachen und etwaige Verstöße gegen die sich hieraus ergebenden Verpflichtungen feststellen zu lassen, damit sie abgestellt werden (Urteil vom 4. April 1974, Kommission/Frankreich, 167/73, Slg. 1974, 359, Randnr. 15).

20 In Anbetracht ihrer Rolle als Hüterin des Vertrags ist daher allein die Kommission für die Entscheidung zuständig, ob es angebracht ist, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, und wegen welcher dem betroffenen Mitgliedstaat zuzurechnenden Handlung oder Unterlassung dieses Verfahren zu eröffnen ist.

21 Dieser Grundsatz gilt auch im Bereich des öffentlichen Auftragswesens, wenn es um Verträge geht, gegen die kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann, weil die entsprechenden Fristen abgelaufen sind.

22 Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Einlegung von Rechtsbehelfen grundsätzlich dem sich aus der Richtlinie 89/665 ergebenden Effektivitätsgebot genügt, da sie ein Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit ist (Urteil vom 12. Dezember 2002, Universale-Bau u. a., C-470/99, Slg. 2002, I-11617, Randnr. 76), und dass die Richtlinie 89/665 einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der die Nachprüfung einer Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers binnen einer bestimmten Frist beantragt werden muss, wobei sämtliche Mängel des Vergabeverfahrens, auf die der Antrag gestützt wird, innerhalb dieser Ausschlussfrist gerügt werden müssen, so dass bei Versäumnis der Frist im weiteren Verlauf des Verfahrens weder die betreffende Entscheidung angefochten noch ein solcher Mangel geltend gemacht werden kann, sofern die fragliche Frist angemessen ist (Urteil Universale-Bau u. a., Randnr. 79).

23 Die Bundesrepublik Deutschland kann daraus jedoch nicht ableiten, dass es dem Grundsatz der Rechtssicherheit widerspricht, wenn die Kommission wegen eines Vertrags, gegen den kein Rechtsbehelf mehr eingelegt werden kann, ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet.

24 Der Gerichtshof hat demgemäß entschieden, dass Art. 2 Abs. 6 der Richtlinie 89/665 keine Auswirkungen auf eine nach Art. 226 EG oder Art. 228 EG angestrengte Klage haben kann (vgl. Urteil vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, C-503/04, Slg. 2007, I-6153, Randnr. 34) und dass diese Schlussfolgerung auch für die Richtlinie 89/665 als Ganzes gilt (Urteil vom 15. Oktober 2009, Kommission/Deutschland, C-275/08, Randnr. 33).

25 Angesichts ihres Aufbaus ist diese Richtlinie nicht als eine Regelung anzusehen, nach der sich auch die Beziehungen zwischen einem Mitgliedstaat und der Gemeinschaft bestimmen, um die es in Art. 226 EG geht (Urteil vom 15. Oktober 2009, Kommission/Deutschland, Randnr. 35).

26 Die nationalen Nachprüfungsverfahren im Sinne der Richtlinie 89/665 und die Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG unterscheiden sich nämlich sowohl hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits als auch hinsichtlich ihrer Zielsetzung voneinander, da das nationale Nachprüfungsverfahren dem Schutz der nicht berücksichtigten Bieter dient, während das Vertragsverletzungsverfahren im allgemeinen Interesse die Beachtung des Gemeinschaftsrechts sicherstellt (Urteil vom 15. Oktober 2009, Kommission/Deutschland, Randnr. 36).

27 Somit kann die Richtlinie 89/665, die in ihrem Art. 1 Abs. 1 die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge die Entscheidungen der Vergabebehörden wirksam nachgeprüft werden können, nicht die Anwendung von Art. 226 EG in Frage stellen, soll nicht die Tragweite der Bestimmungen des EG-Vertrags beschränkt werden (Urteil vom 15. Oktober 2009, Kommission/Deutschland, Randnr. 37).

28 Dem steht das etwaige Risiko nicht entgegen, dass nicht berücksichtigte Bieter, wie die Bundesrepublik Deutschland vorträgt, die in den nationalen Nachprüfungsverfahren im Sinne der Richtlinie 89/665 vorgesehenen Fristen umgehen, indem sie die Kommission mit einer Beschwerde im Hinblick auf eine auf Art. 226 EG gestützte Klage befassen (Urteil vom 15. Oktober 2009, Kommission/Deutschland, Randnr. 38).

29 Wie sich aus den Randnrn. 19 und 20 des vorliegenden Urteils ergibt, ist es nämlich im allgemeinen Interesse allein Sache der Kommission, zu entscheiden, ob sie auf der Grundlage von Art. 226 EG vorgeht (Urteil vom 15. Oktober 2009, Kommission/Deutschland, Randnr. 39).

30 Nach alledem ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 8 in Verbindung mit den Abschnitten III bis VI der Richtlinie 92/50 verstoßen hat, dass die Stadt Bonn und MVA einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag über die Entsorgung von Biomüll und Grünabfällen vergeben haben, ohne ein Vergabeverfahren mit europaweiter Ausschreibung durchzuführen.

Kosten

31 Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 8 in Verbindung mit den Abschnitten III bis VI der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge verstoßen, dass die Stadt Bonn und die Müllverwertungsanlage Bonn GmbH einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag über die Entsorgung von Biomüll und Grünabfällen vergeben haben, ohne ein Vergabeverfahren mit europaweiter Ausschreibung durchzuführen.

2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.

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